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Korruption in der UkraineSelenskyjs Schritt weg von Europa

Ukraines Präsident Selenskyj wollte per Gesetz die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden beenden. Nach Protesten lenkt er ein. Wird sein Volk ihm verzeihen?

Scheint nicht mit Protesten in diesem Ausmaß gerechnet zu haben: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, im Juli 2025 Foto: Michael Kappeler/dpa

Berlin taz | Diese Woche fanden in der Ukraine die ersten massiven politischen Proteste seit Beginn der Vollinvasion Russlands im Jahr 2022 statt. Auslöser war die Verabschiedung des Gesetzes 12414 durch die Werchowna Rada. Das ukrai­nische Parlament hat die beiden Antikorruptionsbehörden, das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) und die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP), damit der Generalstaatsanwalt unterstellt.

Faktisch bedeutet das, die Unabhängigkeit dieser Behörden zu demontieren. Am selben Tag, als die Menschen bereits massenhaft zu Protesten auf die Straße gingen, unterzeichnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das umstrittene Gesetz. Das führte zu noch größerer Empörung in der Bevölkerung und zu massiver Kritik internationaler Partner.

Die beiden Antikorruptionsbehörden NABU und SAP wurden unmittelbar nach dem Sieg der Euromaidan-Revolution gegründet. Einerseits war dies eine Antwort auf eine zentrale Forderung der damaligen Demonstranten: die Bekämpfung der Korruption im Land. Andererseits war der Aufbau von NABU und SAP eine Bedingung der EU für die Gewährung finanzieller Unterstützung und Visafreiheit für die Ukraine. Das Land hatte somit endgültig den Weg zur europäischen Integration eingeschlagen – ebenfalls eine Forderung des Euromaidan.

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Das Gesetz, mit dem diese Institutionen geschaffen wurden, sah vor, dass ausschließlich sie strafrechtliche Ermittlungen wegen Korruption in Höhe von mehr als 4 Millionen Hrywnja (etwa 83.000 Euro) unter Beteiligung von Top-Beamten durchführen dürfen und dass sich niemand in ihre Arbeit einmischen darf. Das NABU ist dafür zuständig, vor der Anklageerhebung die Ermittlungen durchzuführen, und leitet die Fälle dann an die SAP weiter. Die SAP ist eine separate Abteilung der Staatsanwaltschaft, die diese Fälle vor Gericht vertritt. Die Leiter der Behörden werden in offenen Ausschreibungen gewählt. In den Wahlkommissionen beider Behörden sind Vertreter internationaler Organisationen und der Zivilgesellschaft.

Ein Rückschritt um zehn Jahre

Mit dem neuen Gesetz fällt die Ukraine in der Korruptionsbekämpfung um zehn Jahre zurück. Es gewährt dem Generalstaatsanwalt direkte Kontrolle über die Mitarbeiter der SAP und das Recht, Fälle vom NABU zu übernehmen und „im Falle einer ineffizienten Voruntersuchung“ an andere Behörden weiterzuleiten. Da der Generalstaatsanwalt vom Präsidenten ernannt wird und das Parlament nur über den vom Präsidenten vorgeschlagenen Kandidaten abstimmt, verursachte das neue Gesetz auch die Sorge, dass der Präsident direkten Einfluss auf die Ermittlungen der Antikorruptionsbehörden nehmen kann.

Der Fehler könnte Wolodymyr Selenskyj nicht nur die Unterstützung, sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung kosten.

Bisher konnte nur der Leiter der SAP ein Verfahren wegen Korruptionsverdacht gegen hochrangige Beamte erheben und nur ihm unterstanden die Staatsanwälte der SAP. Nun hat der Generalstaatsanwalt diese Rolle. Ebenso wird befürchtet, dass er Einfluss auf bereits eröffnete Verfahren nehmen kann.

Darüber hinaus gibt auch die Art und Weise, wie dieses Gesetz im Parlament verabschiedet wurde, Anlass zur Besorgnis. Ursprünglich betraf es die Untersuchung von Fällen verschwundener Personen in der Frontzone. Das Parlament hatte den Entwurf im April bereits verabschiedet. Am 22. Juli wurden jedoch unerwartet Änderungen hinzugefügt, die die Arbeit der NABU und der SAP sowie die Befugnisse des Staatsanwalts betrafen.

Für das Gesetz stimmten 263 Abgeordnete, die meisten davon aus der Mehrheitspartei des Präsidenten „Diener des Volkes“. Gleichzeitig stimmten mehrere Mitglieder der Präsidentenpartei nicht nur dagegen, sondern riefen offen dazu auf, das Gesetz abzulehnen. Noch am selben Tag begannen in Kyjiw, Lwiw und Odessa erste Massenproteste. Dennoch unterzeichnete Selenskyj in derselben Nacht das Gesetz.

Friedliche Demonstrationen gegen das Gesetz

Am nächsten Tag breiteten sich friedliche Demonstrationen mit der Forderung nach einer Aufhebung des Gesetzes bereits auf 15 Städte in der Ukraine aus, darunter auf die Frontstädte Charkiw und Sumy. An der Kundgebung in Kyjiw nahmen etwa 9.000 Demonstranten teil.

Die Arbeit des NABU und der SAP war zwar vor diesen Ereignissen in der Gesellschaft kritisiert worden. Eine vollständige Prüfung der Institution im Jahr 2025 durch die unabhängige Kommission ergab eine Effizienz von 1,4 von 3. Aber es war gerade der Angriff auf die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden, der die Bevölkerung empörte.

Mit dem Gesetz 12414 verstieß Selenskyj gegen einen stillschweigenden Gesellschaftsvertrag, der in der Ukraine seit 2022 bestand: Die Zivilgesellschaft unterstützt den Präsidenten trotz zahlreicher kleinerer Fehler, solange er den Widerstand der Ukraine gegen Russland anführt und nicht vom Weg in die EU abweicht.

„Alle Kämpfe und Leiden umsonst“

Sie habe das Gefühl, dass „all ihre Kämpfe und Leiden umsonst waren“, erklärt eine der Demonstrantinnen in Charkiw, Inessa, und so ginge es vielen. Der Fehler könnte Wolodymyr Selenskyj nicht nur die Unterstützung, sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung kosten. Warum Selenskyj sich für diesen Schritt entschied, erschließt sich den meisten Ukrainern nicht.

Mit Protesten in diesem Ausmaß scheint Selenskyj nicht gerechnet zu haben. Am Tag nach der Unterzeichnung des Gesetzes berief er die Leiter aller Strafverfolgungsbehörden – darunter den Generalstaatsanwalt, die SAP und die NABU – zu einem Treffen ein. Er bat sie, innerhalb von zwei Wochen ein Dokument zur effektiveren Zusammenarbeit dieser Behörden auszuarbeiten, und versprach, einen entsprechenden Gesetzentwurf in das Parlament einzubringen. Gleichzeitig haben 48 Abgeordnete aus verschiedenen Fraktio­nen einen eigenen Gesetzentwurf im Parlament eingereicht, der die Befugnisse der SAP und des NABU wiederherstellen soll.

Kritik kam auch aus dem Ausland. Internationale Institutionen und die EU forderten von Selenskyj, das Gesetz 12414 wieder aufzuheben. Fällt die internationale Unterstützung für den ukrainischen Präsidenten weg, sind die gesamte finanzielle und militärische Hilfe, die die Ukrai­ne für den Kampf gegen Russland dringend benötigt, sowie Investitionen in den Wiederaufbau gefährdet.

Seit dem Euromaidan ist in der Ukraine eine Generation junger Menschen herangewachsen, für die der Weg des Landes in die EU und das Leben in einem demokratischen Rechtsstaat unverhandelbar sind. Die meisten derjenigen, die derzeit auf die Straße gehen, sind genau diese jungen Menschen. Von ihnen hat jeder entweder Angehörige oder Freunde an der Front verloren oder jetzt dort.

Neuer Gesetzentwurf im Parlament

Am Donnerstagabend legte Selenskyj dann doch schon den von ihm angekündigten Gesetzentwurf dem Parlament zur Prüfung vor. „Der Text ist ausgewogen. Er enthält reale Instrumente, jeglicher russischer Einfluss wurde ausgeschlossen und die Unabhängigkeit des NABU und der SAP ist gewährleistet“, schrieb er. Der neue Gesetzentwurf sieht vor, dass der Generalstaatsanwalt und seine Stellvertreter keine Weisungen an die Staatsanwälte der SAP erteilen dürfen. Außerdem wird festgelegt, dass die Mitarbeiter der SAP nur der Leitung der SAP unterstehen. Laut dem Gesetzentwurf ist es dem Generalstaatsanwalt auch untersagt, den Ermittlern des NABU Weisungen zu erteilen.

Das NABU unterstützte seinerseits den Gesetzentwurf des Präsidenten. „Er stellt alle Verfahrensbefugnisse und Garantien für die Unabhängigkeit des NABU und der SAP wieder her“, erklärte das NABU und wies darauf hin, dass es an der Ausarbeitung des Gesetzentwurfs beteiligt war. Es forderte das Parlament auf, den Gesetzentwurf so schnell wie möglich zu verabschieden.

Starker interner Druck und internationale Kritik zwangen den ukrainischen Präsidenten, von seinen Absichten abzurücken. Doch der Nachgeschmack dieser Maßnahmen wird noch lange anhalten. Nun könnte Selenskyj mit einem neuen Problem konfrontiert sein. Für die Verabschiedung des neuen Gesetzentwurfs fehlen ihm Stimmen im Parlament. Für den Gesetzentwurf 12414 hatten auch die mitgestimmt, die aus Eigeninteresse keine Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden wollen. Mit ihnen muss Selenskyj nun verhandeln.

Mit den Protesten gegen Selenskyjs Maßnahmen streben die Ukrainer nicht seine Stürzung an – schon gar nicht in Zeiten eines existenziellen Krieges. Sie werden ihre Entscheidung bei den Wahlen treffen, wenn die Zeit gekommen ist. Mit den lautstarken Protesten wollen die Ukrainer den Präsidenten und die Parlamentarier dazu bringen, auf die Gesellschaft zu hören.

Eine aktive und geeinte Zivilgesellschaft, die sich bereits seit dreieinhalb Jahren gegen Russland stellt.

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